Vom Sinn der Dankbarkeit

Dr. med. Andres Bircher
Vor 2000 Jahren schrieb Cicero: «Dankbarkeit ist nicht nur die grösste aller Tugenden, sondern auch die Mutter aller anderen». Alle grossen Religionen mahnten die Menschen zur Dankbarkeit.

Im Schma Israel betet der jüdische Gläubige täglich seine Dankbarkeit und im 5. Buch mahnt Mose die Gläubigen, dass die Undankbaren bestraft, die Dankbaren belohnt werden. Mit dem Christentum wurde das Gottesbild sanfter, menschlicher. Dankbar zu sein bedeutet die Anerkennung der Grossmut Gottes. So nannte Martin Luther die Dankbarkeit «die wesentliche christliche Haltung» und «das Herz des Evangeliums». Auch in der hinduistischen und buddhistischen Religion wird Dankbarkeit als wertvolle menschliche Neigung betrachtet und der Koran ist erfüllt von der Idee der Dankbarkeit. Auch da heisst es, dass der Dankbare von Gott belohnt werden wird.

Noch nicht lange hat sich die moderne Psychologie dem Studium positiver Emotionen zugewandt. Heute betrachtet sie Dankbarkeit als das wichtigste positive Gefühl des Menschen. In zahlreichen wissenschaftlichen Studien wurde denn auch nachgewiesen, dass man, wenn es gelingt dankbar zu sein, sich glücklicher fühlt und weniger angespannt, dass Depressionen und Niedergeschlagenheit seltener werden, dass man durch Dankbarkeit allgemein zufriedener wird mit dem eigenen Leben und den Mitmenschen und dass man persönlich wachsen kann und das Selbstwertgefühl und Fragen des Lebenssinns besser unter Kontrolle haben kann.

Dankbarkeit ist das Gegenteil von Neid. Neid ist die stärkste Triebkraft im gesellschaftlichen Leben. Neid ist die Ursache jeglichen Bedürfnisses, mehr zu haben als man zum Leben braucht, mehr als andere zu besitzen, reich zu werden, Macht zu haben. Er ist die Ursache der Wahnidee ständigen Wirtschaftswachstums, der Idee, andere zu vernichten. Neid wurzelt tief in der menschlichen Seele. Er entsteht ganz früh, in der Zeit, da das ganz kleine Kind alles haben wollte, wegnehmen wollte, da es die Bedürfnisse Anderer noch nicht erkennen konnte und nur die eigenen sah. Neid ist tödlich und gemein. Er will sich selbst bestätigen, durch Vernichtung des Anderen. Doch niemals können wir, wenn wir neidisch sind, glücklich sein, niemals zufrieden sein, weder mit anderen, noch mit uns selbst, denn verborgen in den Tiefen der Seele regt sich dumpf die Macht des verdrängten Gewissens und entlädt sich zumal in unglaublicher Aggressivität und Gemeinheit. Der Neidische ist geizig und selbstgerecht, darum kann er nicht lernen und seelisch nicht mehr wachsen.

Dankbarkeit entsteht durch Entbehrung und Bescheidenheit. Wer warten oder verzichten kann, erlebt Dankbarkeit. Wer gibt, wird von grösserer Dankbarkeit erfüllt, als der Beschenkte, dem es vielleicht nicht leichtfällt, anzunehmen, dass ihm geholfen werden muss. Können wir verzichten und Bedürftigen geben, was wir nicht benötigen, so erfüllt uns das Gefühlt der Dankbarkeit. Die englische Dichterin Charlotte Bronte schrieb hierzu: «Dankbarkeit ist ein göttliches Gefühl, sie erfüllt das Herz, aber nicht bis zum Zerspringen, sie erwärmt es, aber nicht bis zum Feuer wie andere Gefühle»: ein Gefühl des Verstehens und verstanden Seins, von Vertrautheit, Geborgenheit. Wer dankbar ist, ist bescheiden, lernfähig und erfüllt vom Sinn für Gerechtigkeit. Er erkennt Bedürfnisse anderer und ist bereit mit ihnen zu teilen. Die Tugend der Dankbarkeit können wir lernen, indem uns bewusst wird, woran wir glauben. Atheisten verleugnen das von den Religionen gegebene Gottesbild. Dennoch sind sie gläubig, denn auch sie glauben an das «Höhere»: eine glückbringende globale Marktwirtschaft, an das Genie der Technik, an einen Sinn sportlicher Weltmeisterschaften, an irgendeine politische Ideologie. Doch lehren diese «Religionen» keine Dankbarkeit. Am Beispiel Nietzsches Zarathustra hat Carl Gustav Jung monumental aufgezeigt, dass der Mensch, wenn er das «Höhere» leugnet, wenn er sich selbst als Gott betrachtet, schizophren wird. Dankbarkeit für unser Leben, für Gemeinsamkeit, für die Schönheit und das Wunder der Schöpfung lehrt uns Bescheidenheit und neuen Sinn für Gerechtigkeit. Damit wird sie zum Gebet, auch desjenigen, der es nicht in Worte fassen mag.

Tipp:
Nehmen Sie sich jeden Abend ¼ Stunde Zeit, ganz allein für sich selbst. Notieren Sie drei Dinge des Tages, für welche Sie dankbar sind. Notieren Sie aber auch täglich, auf wen Sie neidisch sind, wen Sie gekränkt haben mögen und wer Ihre Hilfe benötigt.

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