Vom Umgang mit der Zeit

Dr.med. Andres Bircher
Einst spielten wir glücklich und zeitlos vor uns hin. Versonnen in stets neue Bilder und Träumereien, nahmen wir den Morgentau, die warme Mittagssonne, die Farben der Blumen, Stimmungen, Geräusche und Düfte des Lebens wahr und in der Abenddämmerung, als die Eltern uns zu Bett begleiteten, ohne deren beruhigende Stimme wir keine Ruhe hätten finden können, schliefen wir selig ein.

Lang und heiter war der Tag, lang und ängstigend die Nacht, wo dunkle Bilder, Gestalten und Fratzen aus dem Inneren Seelenleben sich meldeten, Dinge, die noch nie wir gesehen hatten, bis der Morgen neue Heiterkeit in unser Kinderleben brachte. So entstand unser inneres Zeitempfinden. Ein Kindertag war so lang, wie ein Monat des Erwachsenen.

Mit dem Erkennen der Uhrzeit verlor sich die kindlich Unschuld: Man musste pünktlich sein, „vernünftig“ und gehorsam, „keine Zeit verlieren“ durch Träumerei und Spiel, es sei denn man hatte das Glück zu Eltern zu gehören, deren Bewusstsein über die Zeit uns täglich auch spielen und träumen liess. Wo dies fehlte, konnte die kindliche Seele nie erwachsen werden. Da verkümmerten unsere Ideen, unsere Phantasie, unsere innere Musik, unser Seelenleben und wir wurden zu mehr oder weniger ordentlichen Zeitgenossen, zu funktionierenden Menschen, wie sie die Gesellschaft, „die Wirtschaft“ eben zu „brauchen“ glaubt.

Damals ging der Bezug zum lebendigen Kind in uns, zu unserer individuellen, inneren Zeit verloren. Hastig, gehetzt und gestresst haschen wir nach Konsum, nach Gütern, die wir längst haben, nach gesellschaftlichem Ansehen und merken nicht, dass wir von Angst und Neid getrieben sind. Innerlich vereinsamt, haben wir die Fähigkeit verloren, uns selbst zu verstehen, unsere Mitmenschen zu verstehen, mit Schwächeren mitzufühlen, ihnen zu helfen, denn stets sagt‘s in uns: „Ich habe keine Zeit.“  Seltsam: wozu denn fehlt uns die Zeit?

Noch nie war die Zeit so genau bemessen worden, wo der Sekundentakt der koordinierten Weltzeit UTC, im Gegensatz zur Universalzeit UT die noch den Schwankungen der Erdrotation  folgte,  jener der gleichmässig mit SI-Sekunden durchlaufenden internationalen Atomzeit TAI entspricht.

Vor zwei 2 Jahrhunderten hat der Zeitgeist des Bürgertums die Grundlagen des ökonomischen Materialismus  geschaffen. Produktivitätssteigerung, Industrialisierung Ausbeutung minderbemittelter Menschen, die gleichzeitig als Konsumenten „gebraucht“ wurden. Von da an wurde Zeit mit Geld gleichgesetzt und Reichtum mit „Leben“ verwechselt.  Heute sind die materialistischen Vorstellungen des Neodarwinismus bis  in die untersten Schulklassen, bis in den Kindergarten eingedrungen.

Die Vertreter unseres Zeitgeistes glauben, dass die Gesellschaft schnelle Reflexdenker braucht, „aufgeweckte“ Kinder, die in kürzester Zeit „Lernmaterie“ memorieren und wiedergeben können um dem Wahn ewigen Wirtschaftswachstums gerecht zu werden. Längst wurden Unterricht und Prüfungen dieser Forderung angepasst. Wer Zeit braucht, Zeit zum Erleben, zum Denken, zum Empfinden und Fühlen und zum Entwickeln eigener oder kritischer Ideen, hat in höheren Bildungsinstituten nichts zu suchen. Das Diktat des Zeitmaterialismus hat die Dialektik abgelöst.

Die Folgen dieses Wahnsinns sind weit verbreitet, sie äussern sich als Stress, Mobbing, Ängste, Einsamkeit, Isolation, Suchtverhalten, als seelische und körperliche Erkrankung. Die Sprache der Jungen ist hastig geworden, ohne jegliches Mitgefühl. Sie leiden an Verfolgungsängsten. Nur wer hastig reden kann gilt als „cool“, als intelligent, wer langsam redet und Gefühle zeigt als „doof“.  „Funny“ und „Aufgestellt sein“  übertünchen Leere und Einsamkeit und geben der Gruppe das Mass.

So haben viele Erwachsene Menschen  jeden Bezug zum Kind in ihnen selbst verloren, den Bezug zu sich selbst, zu seinen zwei einzigen wahren Bedürfnissen: dem Bedürfnis nach Sicherheit und dem Bedürfnis, verstanden zu werden. So ist die Menschenseele dem Materialismus der Zeit zum Opfer gefallen.

Gelingt es uns aber, dessen bewusst zu werden, so können wir uns von dieser Not befreien. Ist es noch nicht so weit gekommen, dass wir ausgebeutet werden, so haben wir noch das Recht zu neuer Bescheidenheit, das Recht auf alles Sinnlose zu verzichten. Dann wird aus Zeit nicht mehr Geld, sondern Leben“. Dann können wir wieder zu uns finden, zum Kinde in uns selbst und können es an der Hand nehmen, ihm zuhören und mit ihm gehen, wohin sein Wille verlangt. Es wird uns das Leben zurückgeben und den Weg aus der Isolation zeigen, hin zu neuem Verständnis und Mitgefühl,  zu anderen Menschen und zu uns selbst. Ein Weg, der sich lohnt.

Tipp:
Notieren Sie sich bei Kerzenlicht alles, was Sie je wirklich glücklich machte und worauf Sie leicht oder notfalls verzichten könnten. Notieren Sie, wessen Sie als Kind unbedingt nötig hatten, wann und warum Sie je glücklich waren.

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