Vom Willen zur Freiheit

Dr. med. Andres Bircher
Was wir wollen, steht uns eigentlich nicht frei. Der Wille bildet sich aus äusseren und inneren Bedürfnissen. Oft werden wir gezwungen zu wollen; dann bleibt uns dieses Wollen fremd, ein Entschluss, sich äusseren Umständen anzupassen.

Fehlt äusserer Zwang, so können wir nach eigenem Willen entscheiden, oft aber nicht aus freiem Willen, denn die Entscheidungen unseres Tuns entstehen in den Tiefen unserer Gefühle und Illusionen und nur zu einem kleinen Teil in unserem Bewusstsein. Eine Katze ist willensstark, sie handelt gezielt nach ihren Bedürfnissen, aber sie hat keine Vernunft. Wir Menschen sind nicht viel anders. In neuropsychologischen Untersuchungen durch fMRT-Bildgebung wird sichtbar, dass der Wille zum Handeln in verschiedenen Arealen unseres Gehirns entsteht, und zwar bevor der Entschluss ins Bewusstsein gelangt.

Seit 2500 Jahren rätseln Philosophen darüber, wie sich der Wille bildet. Meist kamen sie zum Schluss, dass es keinen freien Willen gebe. Können wir zwischen verschiedenen Umständen wählen, so erlaubt uns dies wohl einen eigenen Willen. Aber auch dann schränken innere Umstände, die uns nur teilweise bewusst sind, die Freiheit unserer Entscheidung ein, denn unsere Werte und Überzeugungen, moralischen Vorstellungen und Ängste sind durch unsere Vergangenheit und diejenigen der Ahnen bedingt. Im 1658 erschienen Werk «De Homine» betrachtete der englische Philosoph Thomas Hoppes den Willen dann als frei, wenn er durch Gründe motiviert ist, die im Einklang mit den Werten und Überzeugungen der wollenden und handelnden Person steht (Kompatilismus). Allerdings lassen auch diese uns nicht frei zu entscheiden, was wir wollen. Darum bestritten andere Philosophen jegliche Freiheit des Willens, da er wie alles Andere in der Welt durch innere und äussere Umstände bedingt sei (Inkompatibilismus): «Der Mensch kann tun, was er will, aber er kann nicht wollen was er will», so fasste Arthur Schopenhauer das Problem zusammen. In den meisten Religionen gilt der Wille des Menschen als göttlich vorbestimmt (Prädestinationsglaube). Nur in der jüdischen Auffassung, stellt die Idee einer Willensfreiheit des Menschen ein zentrales Dogma dar. Dabei sieht sich der Wollende eigener moralischer Verantwortung gegenüber.

Unsere Wahrnehmung geschieht in Schichten. Dem Erkennen äusserer Umstände und unserer Existenz, liegt die Welt der Gefühle zu Grunde. Sie arbeitet nicht mit Logik, sondern in Bildern und freien Assoziationen und bildet die Grundlage unserer Ideen und Phantasie. Sie erlaubt uns gar manches Gleichzeitig intuitiv zu erfassen, dringt aber nur teilweise in unser Bewusstsein ein. Viel tiefer, von der äusseren Realität weit entfernt, liegt die Welt der Illusionen und Wahnideen. Sie kennt keinerlei Bezug zur Zeit und erscheint nachts in den Träumen, um in unser Bewusstsein zu gelangen. Die Welt der Illusionen in uns ist gewaltig. In den Tiefen unseres unbewussten Seins, sind Bilder, Erlebnisse und Triebregungen aus der unvorstellbaren, über Jahrtausende zurückreichenden Kette unserer Ahnen gespeichert: Bilder von Drachen, Kriegen, Feuer, Verfolgung, Überschwemmungen, von Kannibalen, Gespenstern, bizarren Gestalten und Göttern: wilde Geschichten aus der Urzeit. Manches ist den Menschen aller Kulturen gemeinsam (Archetypen). Diese Tiefen unseres unbewussten Seins bestimmen unser Lebensgefühl. Dabei bleibt das Schlimmste verdrängt. ,Doch erscheint es immer wieder in der Faszination mancher Menschen für grausame, Furcht erregende Geschichten und Filme in seltsamen, bizarren Phantasien und in unvorstellbaren Gräueltaten.

Diese Tiefen unseres unbewussten Seins fliessen ganz heimlich in unseren Willen und unsere Entscheidungen mit ein, zusammen mit allen unbewusst übernommenen Meinungen und Beeinflussungen, denen wir ausgesetzt sind. Nur wenn es uns gelingt, dies alles zu erkennen sind wir der grossen, alltäglichen Aufgabe der Kontrolle unserer unbewussten Regungen gewachsen und durch eine gesunde moralische Überzeugung, freies unabhängiges Denkens und eigene Vernunft einen Weg aus einem Dasein als «Primatentier Mensch» zu finden, ein Weg zu innerer Freiheit, Vernunft und Menschlichkeit. Reine Vernunft ist nicht möglich, es sei denn wir finden Zugang zu unbewussten Tiefen unseres Seins. Dann öffnet sich ein Weg zu innerer Freiheit, zu neuer, objektiver Wahrnehmung, unabhängigem Denken und verantwortungsvollem Handeln, ein Weg, der sich lohnt.                                 

Tipp:
1783 mahnte Immanuel Kant die Menschheit: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.“…«Nehmt an, was euch nach sorgfältiger und aufrichtiger Prüfung am glaubwürdigsten scheint, es mögen nun Facta, es mögen Vernunftgründe sein; nur streitet der Vernunft nicht das, was sie zum höchsten Gut auf Erden macht, nämlich das Vorrecht ab, der letzte Probierstein der Wahrheit zu sein.“Schützen Sie sich vor dem Einfluss von Handys, Computer- und Fernsehprogrammen, sie zwingen Sie anzunehmen, was Sie nicht überprüfen können.

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